Keimbahninterventionen im Jahre 2222 – eine Zukunftsvision von Sascha Karberg

 

Sascha Karberg hat auf der Abschlussveranstaltung am 6. Nov. 2018 in drei Runden jeweils einen Input für die Podiumsdiskussionen vorgetragen. Anhand eines Zukunftsszenarios beschreibt er, wie Biotechnologien die Zukunft der menschlichen Reproduktion verändern könnten. Hier der der Talk von Sascha Karberg:

 

Sascha Karberg in der Rolle als Urgroßvater „Granny“. Foto: Alena Schmick

I.

Hätten Sie ein wenig Zeit? Ich möchte Ihnen einen Brief vorlesen. Von meiner Urenkelin. Karla. Sie ist – wie haben wir das früher genannt – „guter Hoffnung“. Sie wird ihr Kind am 22.2.2222 um 22:22 Uhr bekommen. Ja, da sind wir stolz drauf, den Termin wollten viele haben. War nicht billig… aber mit den richtigen Beziehungen, Sie wissen schon… Trotzdem ist die Kleine – wie soll ich sagen – ziemlich verwirrt zur Zeit, irgendwie orientierungslos, richtiggehend überfordert, wenn Sie mich fragen. Das mit dem Kinderkriegen ist ja auch eine schwierige Angelegenheit…

 

Brief der Urenkelin

„Lieber Granny, Du hast mir wirklich sehr geholfen. Seit Du mir diese Tagebücher von Deiner Uroma geschickt hast, haben wir uns endlich getraut, die Sache mit dem Nachwuchs anzugehen. Das war soooo wichtig für uns, weil es uns wirklich die Augen geöffnet hat, was wir wollen. Und vor allem, was wir NICHT wollen. Wir haben das ja lange Zeit vor uns hergeschoben. Es ist ja so viel zu entscheiden. Machen wir es selbst, also so ganz ohne Hilfsmittel, ohne Nachwuchsberater, ohne Erbgutoptimierung, so wie deine Uroma. Oder gehen wir in das Kinderwunsch-Center bei uns um die Ecke. Wir sind da vorletzte Woche hin zur Beratung und kamen ziemlich verwirrt wieder raus. Ich meine, natürlich weiß ich, dass man heute nicht mehr einfach so ein Kind bekommt, sondern eben vorher schon über so Vieles entscheiden muss – schon damit es später nicht gehänselt wird und überhaupt ne Chance hat, glücklich und erfolgreich zu werden. Aber dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt, wusste ich nicht… Das ist aber nicht unsere Schuld, hat der Berater gesagt, es kommen ja auch andauernd neue Sachen dazu. Es geht ja längst nicht mehr nur darum, ob man künstliche Befruchtung machen lässt, um dann an den Embryonen oder Keimzellen ein oder zwei defekte Gene reparieren zu lassen. Das ist ja selbstverständlich. Die Frage ist ja vor allem, welche Apps man dem Kind mitgibt. Wir haben uns für KREBS-STOPP – diese Anti-Krebs-Funktion entschieden. Da sind die Erfolgsaussichten recht gut, falls das Kind mal einen Tumor oder so bekommen sollte.“

* * *

Diese Apps, das sind ja wirklich tolle Erfindungen. Das sind so genetische Schaltkreise, die werden ins Erbgut des Embryos eingesetzt und springen erst an, wenn in der Zelle irgendetwas aus der Norm fällt, also etwa krebstypische Eiweiße auftauchen, oder sich Diabetes-Symptome abzeichnen oder Viren auftauchen oder so was. Die App tötet die defekte Zelle dann ab. Oder alarmiert über Signalstoffe den Arzt, der bei der nächsten Blutkontrolle merkt, was nicht stimmt und die passenden Maßnahmen einleitet. Die neueren Apps arbeiten sogar ganz eigenständig gegen die Krankheit, bevor man selbst was davon merkt. Gegen Übergewicht zum Beispiel. Die Zulassungsbehörden hat vor allem überzeugt, dass man die Apps im Notfall, falls irgendwas schiefläuft, einfach aus dem Erbgut herausschmeißen kann. „Herausflippen.“ Vorher hatten Genmediziner versucht, Hunderte oder tausende Gene zu verändern, um den Ausbruch von Diabetes und andere komplexen Krankheiten zu verhindern in dem Kind. Aber das hätte man nicht rückgängig machen können.

Ich war damals einer der ersten, dem so eine App eingesetzt wurde, damals war das noch unglaublich teuer (und unter uns: auch noch gar nicht offiziell zugelassen). Meine Eltern sind da durchaus ein gewisses Risiko eingegangen. Man wusste ja nicht, wie so eine App nach 80 oder 100 Jahren funktioniert, das hatte man vorher ja nur in Mäusen und Affen getestet. Aber, hej, es hat sich gelohnt, so alt wie ich ist kaum jemand aus meinem Jahrgang geworden. Es hätte mich ziemlich gewundert, wenn meine Urenkelin sich gegen das Update entschieden hätte, also gegen die Optimierung der Anti-Krebs-App, die sie von mir geerbt hat. Völlig unverständlich ist allerdings, dass sie sich gegen diese neue Intelligenz-App entschieden hat.

* * *

„Granny, ich weiß, Du wirst besorgt sein, dass wir uns gegen IQ3000 entschieden haben, aber das war uns einfach zu heikel. Und auch zu teuer. Erstens weiß niemand, ob das wirklich funktioniert, schließlich gibt es dazu keine Tierversuche, wie auch. Und wir haben uns erklären lassen, dass die App in die Funktion sehr vieler Gene eingreift und sich nicht so recht vorhersagen lässt, was da langfristig passiert. In den möglichen Nebenwirkungen stand was von Psychose und Schizophrenie…“

* * *

Undsoweiterundsofort…

Ich habe ihr ein Dutzend Mal erklärt, dass es nicht darum geht, ob das Ding funktioniert oder nicht! Das ganze ist doch längst eine Frage des Prestiges. Wer das nicht machen lässt, gehört eben nicht dazu. Was glaubt sie denn, wie die Leute für die Harvard- oder FU-Studienplätze ausgewählt werden? Doch längst nicht mehr nur durch diese lächerlichen Aufnahmeprüfungen! Wenn Du nicht die richtigen Apps vorweisen kannst, hamse dich auf dem Kieker. Da hast Du es doppelt schwer – offizielle „GLEICHBEHANDLUNGS“-Regeln hin oder her.

Dabei könnte sie sich jede, wirklich jede App leisten. Nicht so wie die armen Schweine, deren gesetzliche Krankenversicherung nur die allernötigsten Gen-Korrekturen und nur diese uralten, „langfristig geprüften“ Apps bezahlen. Die haben doch eigentlich kaum noch eine Chance. Das passiert doch immer seltener, dass es denen nochmal gelingt, einen der besser bezahlten Jobs zu ergattern. Du kriegst ja heute schon gar keinen Kredit mehr, ohne Nachweise deiner erblichen Fitness. Karla ist da einfach zu blauäugig:

„Granny, die Tagebücher haben mir klar gemacht, dass ich nicht zu allem ja sagen muss, dass mein Kind auch ohne all die Korrekturen und Apps glücklich sein kann und dass ich mich nicht schuldig fühlen muss, wenn wir uns für oder gegen eine App entscheiden. Natürlich können wir unserem Kind die wichtigsten Apps nicht vorenthalten. Auch, weil das diese Gesellschaft nun mal von uns irgendwie erwartet. Aber der Blick in die Tagebücher hat mir gezeigt, dass Glück und Unglück nicht allein von diesen Apps und meinen Entscheidungen abhängen.“

Vielleicht hätte ich ihr diese alten Tagebücher lieber doch nicht geben sollen. Hat sie völlig durcheinandergebracht. Dabei müsste sie doch begreifen, dass es diese „alten Zeiten“, in denen der Zufall – oder wenn sie so wollen „Gott“ – die Entscheidungen fällte, einfach nicht mehr gibt.

Foto: Alena Schmick

 

II.

Sie wissen ja, meine Urenkelin Karla ist schwanger. Allerdings nicht nur mit ihrem Kind, sie geht mit einer ganzen Menge Ideen schwanger. Seit sie sich mit der Erbgutplanung ihres Nachwuchses auseinandersetzen musste, streitet sie mit ihren Eltern. Vorher war es nie ein Thema, ob sich Horst und Elke, das sind ihre Eltern, für die richtigen Erbgutanpassungen entschieden haben. Aber jetzt fühlt sie sich plötzlich „unter Druck gesetzt“. Die zwei, drei Genveränderungen, die Horst in bester Absicht machen ließ, um ihre Aufmerksamkeitsgabe etwas zu verbessern, ihr musikalisches Gedächtnis, ihre Fremdsprachenkompetenz – von all dem will sie nichts mehr wissen, sie habe das nie gewollt, sie habe die Klavierstunden gehasst und vor allem den stillen Vorwurf, dass die Investition in ihr Erbgut doch schließlich nicht umsonst gewesen sein könne. Sie habe sich aber nie als Musikerin empfunden, ihre Eltern hätten von ihr ein völlig anderes Bild gehabt und nicht sie selbst und ihre Wünsche und Entwicklungen wahrgenommen, sondern was die Genanpassungen vorgegeben hatten.

Der Gipfel der Unverschämtheit war dann, als sie behauptete, dass dieser genetische Schutz vor Aids, der ja nun wirklich nötig ist und schon meinerzeit Standard war, sie womöglich empfänglicher für diese neuen Viren gemacht hat, diese Dinger aus Australien — na, ich hab den Namen vergessen. Egal. Sicher wissen wir oft nicht, ob eine hilfreiche Genveränderung in einem anderen Zusammenhang nicht doch auch Nachteile haben kann. Und es gibt ja auch diese Fälle, wo das vermutet wird – aber bewiesen ist das nicht. Gut, es hat diese Fehlentwicklungen mit der erhöhten Aggressionsbereitschaft gegeben. Das haben die Erbgutoptimierer in den Kinderwunschzentren hierzulande allerdings schnell am eigenen Leib gespürt. Was sich auf diesem Gebiet in anderen, weniger demokratisch organisierten Ländern entwickelt, weiß allerdings keiner so genau.

Letztens kam Karla vom Vortrag irgendsoeines Journalisten zurück, der herausgefunden haben will, dass manche totalitäre Staaten den Firmen inzwischen insgeheim vorschreiben, was sie den Menschen ins Erbgut zu schreiben haben. Der Schritt, die Fortpflanzung aus dem Schutzraum des Körpers ins Reagenzglas zu verlegen, habe diese Form der Einflussnahme, der Manipulation erst ermöglicht. „Wer weiß denn schon, was sie meinem Kind alles einbauen und was nicht“ hat sie letztens beim Familientreffen gebrüllt.

Das sind bestimmt die Hormone. Eigentlich hat man das ja im Griff, aber sie lässt ja keinen Arzt mehr an sich heran. Wenn das so weitergeht, dann wird ihr nächstes Kind womöglich so ein Bio-Kind. Die ganz extremen lassen ja sogar all die Apps und Anpassungen rückgängig machen, die ihre Eltern und Großeltern teuer bezahlt haben. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran nur denke, alles umsonst, alles umsonst… Und was werden die Nachbarn sagen, wenn sich das rumspricht.

Wie sich das Kind mit seinem Gen-Rucksack fühlt oder nicht, das ist doch gar nicht der Punkt. Früher, also bevor wir mit Keimbahntherapie begonnen haben, hat man doch auch mit seinem zufällig zusammengewürfelten Erbgut leben müssen. Man muss es mal so sehen: Das Wissen, dass das eigene Erbgut hier und da optimiert wurde, kann einen doch auch viel selbstbewusster machen, im Leistungsdruck der Gesellschaft zu bestehen, es zu schaffen. Und vor allem zu WISSEN, anderen natürlicherweise überlegen zu sein. In der Vergangenheit haben die Eliten ja nur GEGLAUBT, von Geburt an besser als anderen zu sein, heute wissen wir es. Damit gibt es doch auch endlich viel bessere Kriterien, den Menschen den richtigen, den angemessenen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen.

Foto: Alena Schmick

III.

Ich hoffe, ich habe Sie mit der Geschichte meiner Urenkelin jetzt nicht gelangweilt. Ich habe Ihnen das ja nur erzählt, weil ich mal klar machen wollte, was diese jungen Menschen heutzutage so durchmachen müssen. Wir hatten es damals, als das alles anfing, ja viel einfacher. Da gab es ja kaum Apps und Genkorrekturen im Angebot. Aber heute… ich sage ihnen. Da sind die jungen Dinger kaum Mitte fünfzig, haben kaum ein Viertel ihres Lebens hinter sich, und sind mit all diesen ganzen Entscheidungen konfrontiert. Jedenfalls hier in Europa. Andere Länder regeln das Thema Fortpflanzung ganz anders. Ganz anders, sage ich ihnen. Hier ist ja seit dem Grundsatzurteil des Gerichtshofs kurz nach der Jahrhundertwende, 2118, einfach alles möglich. Damals nannte man das noch Keimbahntherapie. Erinnern Sie sich? Da hatten eine Handvoll Eltern geklagt, dass Europa das Menschenrecht ihrer Kinder auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt habe, weil die Unionsgesetzgebung das Korrigieren von Gendefekten nicht erlaubte. Die eine Familie hatte seit Generationen eine besonders aggressive Variante eines Krebsgens mit sich herumgeschleppt. Eine andere hatte diese ApoE4-Mutation, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, schon frühzeitig an Alzheimer zu erkranken. Und der Europäische Gerichtshof hatte ihnen Recht gegeben. Natürlich. Wer will soetwas schon an seine Kinder vererben. Und viele, die es sich leisten konnten, hatten eh längst mit Keimbahneingriffen begonnen, im Ausland. Jedenfalls hatte die EU plötzlich Milliarden an Entschädigung zahlen müssen. Natürlich änderte die EU-Kommission daraufhin sofort das Gesetz – allerdings so offen und schwammig formuliert, dass seitdem im Grunde jede Erbgutveränderung möglich ist. Noch bevor Ei- und Samenzellen im Reagenzglas oder – in seltenen Fällen auch noch „ganz natürlich im Körper der Frau“ – zusammenkommen, darf hier im Grunde alles verändert werden. Erst ging gar nichts, dann alles. Dass heißt, nicht nur medizinisch mehr oder weniger sinnvolle Korrekturen oder Ergänzungen im Erbgut sind erlaubt, sondern auch solche, die nur Äußerlichkeiten wie die Augen-, Haut- und Haarfarbe betreffen. Dass das Geschlecht nicht vorherbestimmt werden darf, kommt einem fast schon wie ein Witz vor. Und das nur, weil sich die Politik seit hundert Jahren nicht einigen kann, wo denn nun die Grenze zwischen sinnvollen medizinischen Eingriffen und irgendwelchen Verschönerungen oder Optimierungen liegen kann. Ist eine zu große Nase ein inakzeptables, krankhaftes Makel oder hinnehmbarer Teil eines Individuums? Soll gehörlosen Eltern verboten werden, ihrem Kind eine Genvariante verpassen, die es gehörlos macht, oder dürfen die Eltern selbst entscheiden, was sie als „krank“ und was als „gesund“ oder „normal“ definieren? Wo sind die Grenzen? Und was geschieht zum „Wohl des Kindes“ und was nicht?

Die Anbieter, die Erbgutoptimierer, Kinderwunschzentren und wie sie alle heißen, stellen sich auf den Standpunkt, dass es ausreicht, die Eltern in spe darauf hinzuweisen, dass Eingriffe ins Erbgut insbesondere in nicht-medizinischen sondern ästhetischen oder verhaltensmodifizierenden Fällen mit womöglich noch unbekannten Nebenwirkungen verbunden sein können. Damit müssen sie nicht haften, falls etwas schief geht. Informationen über Fehlentwicklungen oder Langzeitschäden werden nicht erhoben – auch das ist im Gesetz nicht geregelt. In Europa muss man sich trotz bester Forschungsinstitute auf ausländische Forschungsergebnisse über die Chancen und Risiken verschiedener Keimbahneingriffe verlassen, weil die Forschung an Embryonen seit über 200 Jahren nicht geregelt sondern verhindert wird.

Das machen andere Länder ganz anders. In den USA dürfen Eltern nur klar definierte, fast nur medizinisch begründete Eingriffe ins Erbgut vornehmen, die vorher von der zuständigen Behörde, der FFDA, der Fertility, Food and Drug Administration, nach mindestens zehnjährigen Tests genehmigt wurden. In China schreibt der Staat längst ein Mindestmaß an Apps vor, die jedem Kind einzubauen sind. Ist ja auch günstiger für das Gesundheitssystem. Was die alles an Medikamenten und Therapien sparen dadurch!

Andere Länder hingegen verbieten die Praxis noch immer, so ist etwa der US-Bundesstaat Vermont ein El Dorado für alle, die das „reine“ humane Erbgut erhalten wollen. Manche nennen diese Typen „Bio-Menschen“. Dort müssen Paare sogar nachweisen, dass weder sie selbst noch ihr Nachwuchs genoptimiert sind. Dass führt zu der Situation, dass Menschen, die zufälligerweise eine der Mutationen tragen, die gegen Aids oder irgendeine andere Krankheit resistent machen, dort keine Fortpflanzungsgenehmigung bekommen. Ist das nicht absurd? Manchmal kommen mir Zweifel, ob die Menschheit wirklich in der Lage ist, ihr genetisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Jedenfalls versucht man überall auf der Welt anders mit den neuen Möglichkeiten klarzukommen. Und welcher Weg der beste ist, das weiß – offengestanden – keiner so richtig. Vielleicht entscheidet ja auch der Zufall darüber, ob es nun die genoptimierten oder die Bio-Menschen sein werden, die die Spezies Homo sapiens voranbringen. Am Ende hat die Evolution das letzte Wort, egal, wie sehr wir sie zu beeinflussen versuchen.

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